Die Malerin, Illustratorin und Kinderbuchautorin Tom Seidmann-Freud wurde 1892 als Martha-Gertrud Freud in eine gutbürgerliche jüdische Familie in Wien geboren. Die Mutter Mitzi (Marie), die 1942 in Treblinka ermordet wurde, war die Schwester von Sigmund Freud, dem „Vater der Psychoanalyse“. Mit Ende fünfzehn, nachdem die Familie von Wien nach Berlin gezogen war, änderte Martha ihren Namen in Tom und begann gelegentlich auch Männerkleidung zu tragen. Sie war sicher, dass der männliche Vorname ihr bei ihrer zukünftigen Arbeit als Künstlerin nützlich sein würde. Tom Freud war eine echte Avantgardistin. Nach der Schule besuchte sie Kunstschulen in Berlin und London. Mit noch nicht einmal 22 Jahren veröffentlichte sie 1914 ihr erstes Buch: „Das Babyliederbuch“. Gleichzeitig veranstaltete sie mit ihrer Schwester Lily erfolgreiche Märchennachmittage. Ihre Freude an Märchen sollte einen nicht täuschen. Denn diese „authentische Bohèmienne“, wie Gershom Scholem die bubiköpfige Tom in seinen Memoiren beschrieb, hatte nichts Niedliches oder Tantenhaftes, nichts, was für gewöhnlich mit Kinderbüchern assoziiert wird. Ihre Bücher werden heute in einer Reihe mit den Kinderbüchern von Grosz, Schwitters oder Morgenstern gesehen, weg vom Althergebrachten hin zu neuer Klarheit. In den 1920er Jahren kannte jedes Kind ihre Bücher, die heute in Museen liegen. Sie war eine der bekanntesten und erfolgreichsten Kinderbuch-Illustratorinnen der Weimarer Republik. 1930 wurden zwei ihrer Bücher unter die 50 schönsten in Deutschland erschienenen Bücher gewählt. Da war sie schon ein halbes Jahr tot. Zutiefst mitgenommen vom Freitod ihres Mannes 1929 nahm sich Tom Seidmann-Freud 1930 nur vier Monate später das Leben. Das Paar hinterließ eine Tochter. Tom wurde nur 37 Jahre alt. Seither ist sie so gut wie vergessen – außer bei Sammlern und in Israel. „Im Stil sind die schnörkellosen Bilderbücher und Fibeln ganz der Neuen Sachlichkeit verpflichtet. Und in einer Zeit, die für Mädchen und Jungen gewaltige Unterschiede in der Erziehung vorsieht, kann man bei Seidmann-Freud kaum unterscheiden, ob sie Jungen oder Mädchen gezeichnet hat, Schulkinder, Teenager oder junge Zwerge: Alter und Geschlecht spielen in ihrem Kosmos keine Rolle, ihre Charaktere sind bereit, jede Rolle einzunehmen, die das lesende Kind sich erträumt. […] Als jüdische Autorin wird der Verkauf ihrer Bücher […] von den Nationalsozialisten boykottiert, und wie so viele Künstler der Zwanzigerjahre, die verboten und verfolgt werden, ist sie vergessen, als der Zweite Weltkrieg endet. Die autoritäre und restaurative Nachkriegszeit hat keinen Bedarf für eine so freie, experimentelle Kinderliteratur. […] Das Werk von Tom Seidmann-Freud […] erinnert in seinem gewaltigen Anspruch an einen großen pädagogischen Aufbruch, an eine Zeit, in der Erziehung das Kind und seine Kompetenz vorbehaltlos in den Mittelpunkt stellte, ihm entgegenkam, um ihm die Zukunft, diese große Utopie, anzuvertrauen. Dass dieses Werk fast mit einem Überseekoffer verschwunden wäre, ist unvorstellbar.“ (Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, Catrin Lorch, 26./27.08.17)