Himmel sehen

Von Ann-Christin Focke

3 D

"Schwabenkinder" wurden die Kinder aus Vorarlberg, Nord- und Südtirol sowie der Schweiz genannt, die alljährlich zu den Kindermärkten ins Schwäbische zogen. Seit der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts wurden Tausende Kinder von ihren Eltern zum Arbeiten nach Schwaben geschickt, um auf den Märkten wie Vieh verkauft zu werden und mit dem geringen Lohn für ihre Sklavenarbeit ihre Familien zu ernähren. Eine grundlegende Änderung trat erst ein, als 1921 auch die österreichischen Kinder in Württemberg schulpflichtig wurden.
Ann-Christin Fockes Stück "Himmel sehen" hat diesen historischen Hintergrund, doch die Autorin benutzt ihn lediglich als Folie, um eine allgemeingültige Geschichte von Macht und Ohnmacht zu erzählen. Im Zentrum stehen dabei die "Frau Baronin" und ihr Dienstmädchen Anna. Anna hat sich gegen ihre Freundin Charlotte durchgesetzt und die begehrte Stelle bei der Herrschaft bekommen, während Charlotte zu den gefürchteten "Saubauern" muss. Doch auch Annas Traum vom Dienstmädchenleben hält der Realität nicht stand: Sie wird von der gnädigen Dame gedemütigt und psychisch gequält. Nachdem Anna anfangs noch hofft, sich die Gunst ihrer Herrin erarbeiten zu können, entwickelt sich das Verhältnis bald zu einem erbitterten Kampf, in dem die Macht der Herrschaft immer mehr ins Wanken gerät. Bis Anna die Schwäche hinter der harten Fassade der Baronin erkennt und den Spieß endgültig umdreht.
Ann-Christin Focke zeigt, wie eine kaputte Gesellschaft kaputte Menschen hervorbringt, wie aus dem Gequälten ein Quälender, aus dem Geschlagenen ein Schläger wird. Vor dem historischen Hintergrund stellt die Autorin ganz aktuelle Fragen nach den Folgen körperlicher und seelischer Gewalt: Was wird aus einem Menschen, der seine Kindheit in einem Klima der gegenseitigen Verachtung verbringt?

"'Himmel sehen' ist ein von Geschichte befreites Historienstück, eine Parabel über Macht vor der Folie tatsächlicher Ereignisse." (Süddeutsche Zeitung, 29.04.06)

"Über die bloße Geschichte zweier ausgebeuteter Tiroler Mädchen hinaus, die natürlich zu Herzen geht, beinhaltet das kleine Stück noch anderes: nämlich wie der ausgeübte Druck von oben jeweils weitergegeben wird nach unten. Also wie die von der Baronin gedemütigte Anna sich den kalten Gestus ihrer Herrschaft zulegt, wenn sie der kleineren Charlotte gegenübertritt. Dass man bei 'Himmel sehen' durchaus auch an 'Die Zofen' von Jean Genet denkt, ist für die Jung-Dramatikerin nicht ehrenrührig." (Münchner Merkur, 29.04.06)

UA am 27.04.2006